Warum hasse ich mich so sehr?
Warum hasst Du Dich so sehr?

Wie die offensichtlichen Gründe auch aussehen mögen, so ganz treffen sie nicht das, was Du mit Deiner Frage meintest. Tausenden Mädchen geht es schließlich von außen betrachtet genauso wie Dir. Die Mehrheit der Mädchen ist mit ihrem Körper nicht richtig zufrieden und hat keine Chance auf eine Karriere als Model. Die meisten Frauen empfinden ihre Tage als eher unangenehm und in jeder Klasse gibt es Außenseiter. Deine Wut und Enttäuschung sitzen viel tiefer? Du ahnst insgeheim, dass Dein Ekel vor Dir selbst nicht all zu viel mit den oben geschilderten Punkten zu tun hat. Vielleicht haben die körperliche Veränderung oder ein heftiges Erlebnis in der Schule einen Stein ins Rollen gebracht, der ohnehin schon in Dir geschlummert hat. Irgendetwas hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, und letztlich ist es egal, was der Auslöser war. Denn irgendwann hättest Du den Abgrund in Dir schon kennengelernt.

Du sagst, Du hasst Deinen Körper. Die Arme, die Beine, den Bauch, die Brüste, das Gesicht? Wenn Du in eine andere Hülle schlüpfen könntest, wäre dann alles super, oder wärst Du immer noch Du selbst, mit der ganzen Wut und Verzweiflung, die ja irgendwo hin muss? Also direkt gefragt: Geht es um Deinen Körper oder um Dich? Bekommt Dein Körper Deine ganze Wut ab, weil er für Dich greifbar ist? Transitioner sagen oft, dass sie alles hinter sich lassen wollen, sie ertragen ihren alten Namen nicht mehr und verabscheuen alte Fotos von sich. Das alte Ich soll verschwinden und sie tun das einzig Mögliche: Ihren Körper so verändern, dass äußerlich von diesem Ich nicht mehr viel übrig bleibt, und eine Zeit lang mag es sich so anfühlen, als wäre auch das innere Ich verschwunden. Aber irgendwann meldet es sich wieder zu Wort – das alte Ich in seiner neuen Hülle.

Wir alle haben schon einmal vor Wut etwas weggeschmissen, das gerade für uns greifbar war. Dabei galt unsere Wut nicht dem Glas, das zufällig vor uns auf dem Tisch stand. Aber es hat sich gut angefühlt, das Glas in Scherben zerplatzen zu sehen. Und noch intensiver fühlt sich die Genugtuung an, direkt auf den eigenen Körper Macht auszuüben – mit der Faust gegen die Wand schlagen, sich die Haare abrasieren … Sich schneiden, bis die Schmerzen die Verzweiflung übertönen, so lange Hungern, bis das Gewicht unten und Deine Selbstkontrolle wieder oben auf ist. Die Wutanfälle und die unendliche Leere und Bedeutungslosigkeit sind zwei Seiten der selben Medaille. Ganz euphorisch seien sie gewesen, sagen viele Mädchen, als sie aus der Narkose aufwachten und ihre Brüste amputiert waren. So lebendig hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt, aber rückblickend, so gestehen es sich manche Frauen später ein, habe sich da von Anfang an auch eine nagende Enttäuschung in dieses Hochgefühl geschlichen. So richtig echt fühlte sich die neue Lebendigkeit nämlich doch nicht an, und insgeheim ist man schon beim nächsten Schritt, um das alte Ich noch mehr auszulöschen und noch glücklicher zu werden. Wie ein Süchtiger, der die Dosis immer wieder erhöhen muss, oder wie ein Tattoo-Junkie, der nicht aufhören kann, bis auch die letzte freie Stelle zerstochen ist.

Welchen Weg man auch einschlägt, um das alte Ich zu verletzen und zum Verschwinden zu bringen, die Ohnmacht kommt wieder zurück und schnürt die Kehle zu. Nur für den Augenblick, in dem das Glas an der Wand zersplittert, fühlt man sich lebendig und glücklich. Die Arme und Beine sind mit Schnittwunden übersät, die Waage zeigt das Gewicht einer Grundschülerin, das Testosteron hat das weibliche Antlitz ausgemerzt, doch das alte Ich ist immer noch da, solange wir leben.

Was quält Deine Seele?

Es wird Zeit, Deinen Körper in Ruhe zu lassen, und zu fragen: Warum hasst Du Dich selbst so sehr? Was ist wirklich los mit Dir? Was macht Dich so wütend und traurig?

Wir haben da folgende Annahmen, die wahrscheinlich auch auf Dich zutreffen:

Du bist nicht mit dieser Last, die auf Deiner Seele liegt, zur Welt gekommen.
Egal ob du 14 oder 19 Jahre alt bist, das Zeitfenster ist überschaubar, in dem sich ein Trauma in Deiner Seele ausgebreitet hat.
Wir glauben nicht, dass Dich allein Deine körperliche Veränderung während der Pubertät so tief erschüttert hat, dass Du Deine Brüste am liebsten abschneiden würdest, dass Du Fotos von Dir, auch frühere Kinderfotos, nur noch mit Abscheu sehen kannst, und dass Du insgesamt in so eine heftige Krise gerätst, dass Du Dein Leben und Dich selbst in Frage stellst.
Wir glauben auch nicht, dass gesellschaftliche und mediale Einflüsse für Deine psychischen Probleme alleinverantwortlich sind. Natürlich, wenn Du GNTM schaust, seitdem Du neun bist, dann prägt es Deine Selbstwahrnehmung und verstärkt eventuell auch Identitätskonflikte. Und wenn Dir Männer zu viel oder zu wenig hinterher- oder auf die Busen schauen, dann hat das ganz klar Einfluss auf Dein Selbstbewusstsein. Ganz zu schweigen von der Frage, ob Du in Deiner Schule beliebt oder ein Außenseiter bist. Aber wie sehr Dein Selbstbewusstsein von außen auch malträtiert wird, wie es tief in Dir aussieht, wie es um Dein Selbstwertgefühl bestellt ist, das hängt weder von Deinen körperlichen Veränderungen noch von äußeren sozialen Einflüssen ab. Klingt kompliziert? Ein Beispiel: Es gibt 14-Jährige, die haben so ein blendendes Selbstbewusstsein, oder denen ist alles egal, die stellen sich vor die Klasse und gehen zum Schulleiter und sagen, sie seien trans und wollen mit einem neuen Namen angesprochen werden. Aber ihr Selbstwertgefühl ist ganz unten, sie fühlen nur Leere und Sinnlosigkeit. Sie wissen nicht, für wen und warum es überhaupt eine Bedeutung hat, dass sie leben. Und anders herum gibt es Menschen, die sind alles andere als selbstbewusst und kriegen den Mund kaum auf, aber innerlich sind sie gut drauf, sie blicken positiv in die Zukunft, fühlen sich geliebt und zweifeln nicht grundlegend an sich selbst

Lange Rede kurzer Sinn: Wahrscheinlich lässt sich die tiefere Ursache Deines Traumas eingrenzen. Es geht weniger um die Zeit Deiner Pubertät oder die letzten Jahre in der Schule, sondern vielmehr um Deine ersten Lebensjahre. Wie bist Du groß geworden? Wie ging es Deiner Familie, als Du ein Kind warst? Was für Gefühle hast Du, wenn Du an Deine Mama und an Deinen Papa denkst?

Stell Dir vor, Du könntest Dich selbst in den Arm nehmen, als Du ein Jahr alt warst, und als Du drei und fünf Jahre alt warst: Was würde Dein Kinder-Ich Dir heute erzählen? Und würde es wollen, dass Du Dich selbst zerstörst, mit Rasierklingen, mit Alkohol, mit Testosteron oder sonst wie?

Vielleicht hast Du die Möglichkeit mit Deinen Eltern, mit älteren Geschwistern, oder mit Oma und Opa über Deine Kindheit zu reden? Vielleicht können sie Dir dabei helfen, die Ursache für den dunklen Schatten auf Deiner Seele zu erkennen? Und bestimmt können sie auch einige spannende und berührende Geschichten aus Deiner Kindheit erzählen, die Du noch gar nicht kanntest.

Eine einfache Antwort – dies oder jenes ist die Ursache für den Schmerz, den Du in Dir trägst – gibt es meist nicht. Doch ein Therapeut kann Dir bestimmt dabei helfen, Deine persönliche Situation zu erkunden und Deine Gefühle besser einzuordnen. Wir wünschen Dir von ganzem Herzen, dass Du Dein inneres Kind besser kennenlernen und in den Arm nehmen kannst.