„Ich bin hochsensibel“, „autistisch“, „trans“ oder „habe ADHS“. Wer solche Selbstdiagnosen wichtig kundtut, ist – man ahnt es bereits – aller Wahrscheinlichkeit nach weiblich, jung und politisch eher links eingestellt. Dieses Phänomen hat Holger Richter, Leitender Psychologe am St.-Marien-Krankenhaus Dresden genauer untersucht. „Es sind vor allem junge, woke, linke Frauen, die eine Opferkultur pflegen und sich gegenseitig in der Opferrolle bestätigen,“ betont Richter im Interview mit der NZZ.
Was Richter beschreibt, erzeugt Bilder. Man sieht die motzig-trotzigen Klima-Kleber-Kinder direkt vor sich. Schöne deutsche Namen, Kinder aus gutem Hause. Doch hinter dem selbstgerechten Gehabe klaffen echte psychische Abgründe. Jedoch nicht diese, die sie bei sich selbst diagnostizieren. Meist liegen als tiefere Ursache eben nicht Autismus, Transsexualität oder ADHS sondern Persönlichkeitsstörungen und unter diesen vor allem narzisstische Persönlichkeitsstörungen vor. „Narzisstische Persönlichkeiten neigen zu Weltrettungsphantasien. Das sieht man im linken und grünen Spektrum“, erklärt Richter.
Auf der Psychotherapie-Station und in der ambulanten Psychotherapie überwiegen eindeutig die jungen Frauen zwischen 18 und 40 Jahren – mit Diagnosen, die oft schwer zu fassen sind und sich ausweiten, manchmal sind es sieben Diagnosen, die jemand bekommt. Holger Richter
„Für Millennials und Generation Z ist psychisches Leiden inzwischen Teil der Identitätsbildung“
Auf diese Diagnose-Inflation zielt Richters Kritik ab. Die subjektive Sicht und die selbst ermittelte Gefühlslage werde als Faktum ausgegeben. Wokeness fokussiere auf Opfergruppen und Sensibilität. Jeder erhalte so eine Diagnose, die sein Gefühl objektiviert, und dazu den Stempel des Therapeuten. Dieser medizinisch fragwürdige Prozess sei heute ein wesentlicher Bestandteil moderner Identitätsbildung. „Eine Diagnose bietet heute eine Identität an“, stellt Richter fest und besonders ADHS, Genderdysphorie oder Autismus würden neue Identitäten erschaffen.
Junge linke Frauen sind weit mehr psychisch krank als der vielgeschmähte alte weisse Mann. Die psychische Störung bietet einen Ausweg, einen neurotischen Kompromiss, wenn man überzeugt ist, nichts ändern zu können, und doch der Gesellschaft entkommen will. Diese Patienten verlangen mit ihren Störungen nach besonderer Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme und treten oft sehr selbstbewusst auf. Sie werten andere ab, die ihr Leiden infrage stellen.
Nun könnte man fragen, warum sich junge Mädchen heute in so großer Zahl eine Persönlichkeitsstörung zuziehen, dass eine Beschreibung des Phänomens schon zwangsläufig wie eine Polemik wirkt: „Jung, weiblich, woke und psychisch gestört.“ Zur Erkundung des unmittelbaren Phänomens ist schon viel geschrieben worden.
Jedes Jahr kommen 2000 neue Psychotherapiepraxen hinzu
Richter ergänzt das Bild mit einer Perspektive, die jeden, der politisch korrekte Reflexe verinnerlicht hat, erst einmal schlucken lässt:
Mittlerweile sind zu fast 80 Prozent Frauen in der Psychotherapie tätig, und drei Viertel der Patienten sind Frauen. Im Jahr 2000 waren 60 Prozent der Therapeuten weiblich. Frauen bestätigen sich untereinander mehr als Männer. Sie widersprechen seltener, sind empathischer und gesundheitsbesorgter. Eine Therapeutin hinterfragt die Patientin, die sich als Opfer fühlt, womöglich weniger. Einige Therapeuten haben auch Angst, als frauenfeindlich, rassistisch oder transphob zu gelten, und bestätigen lieber.
Ein Ende dieser weiblichen Wellness-Therapie ist nicht in Sicht, denn in Deutschland kommen jedes Jahr 2000 neue Psychotherapiepraxen hinzu, mahnt Richter. Die Sicht auf die tatsächlich wunden Punkte im Leben der Betroffenen werde durch die Affirmation immer weiter verstellt. Auch gehe die Fähigkeit zu einer echten und heilsamen Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit verloren. Anstelle der inflationären Pathologisierung normaler Herausforderungen des Lebens sollten die Betroffenen dem Beispiele des männlichen Konservativen folgen und erleben, dass „soziale Kontakte, Natur, Sport, Genuss, Kunst und eigene Zielsetzungen“ genauso gute Therapeuten sind.